Mentale Beanspruchungen im Finale und in Finale

Für den Bericht einer Wettkampfgruppe ist „Finale“ eine nicht gerade eindeutige Überschrift. In den Osterferien ging es für die Leistungsgruppe nämlich nach Finale in Italien zum Felsklettern und nicht, wie sonst so oft, zum Wettkampfklettern inklusive dessen Finale.

 

Da der Titel ja förmlich zu einem Vergleich zwischen Felsklettern und Wettkampfklettern einlädt, möchte ich mich diesem nun einmal stellen. Mögen die beiden Disziplinen auch noch so unterschiedlich sein, zeigen sich doch auch einige Parallelen. Vor allem in Bezug auf die mentale Beanspruchung des Kletterers sind die beiden Spielarten vielleicht nicht so unterschiedlich, wie man zunächst denkt. Hier also der Versuch eines Vergleichs zwischen „Finale“ und „Finale“:

 

Schon bei der Anreise geht es los. Man steht früh auf und sitzt ewig im Auto. Auf dem Weg nach Finale sind es immerhin mindestens 7 Stunden. Nach einer so langen Fahrt möchte man dann natürlich auch einiges leisten. Der Druck steigt also schon einmal. Jeder Wettkämpfer kennt die Fragen nach der Rückkehr: „Und, was hast du geklettert?“ oder nach dem Wettkampf „Wie lief‘s; welcher Platz?“. Außerdem darf man nicht vergessen, wie intensiv Leistungskletterer sich auf einen Urlaub oder einen Wettkampf vorbereiten. Da möchte man dann auch selbst Resultate erzielen.

Im Wettkampf hängen diese Resultate von einem Versuch pro Route ab. Beim Felsklettern sind die Versuche, zumindest theoretisch, nicht begrenzt. Man könnte also meinen, dass der Felskletterer weniger Anspannung ertragen müsse. Ganz so ist es aber auch nicht, denn erstens ist ein Onsight oder ein Flash bekanntlich auch am Fels sehr begehrt, und zweitens kann man in Routen am Leistungslimit an einem Tag vielleicht 4 bis 10 sinnvolle Versuche setzten, je nach Steilheit. Danach sind die Arme leergepumpt oder der Tag neigt sich dem Ende zu. Solche Routen mit eher begrenzter Versuchsanzahl findet man in Finale zum Beispiel an Felsen wie „Euskal“, an dem die 30 Meter langen Routen zum Teil geschätzte 30° überhängen. Jeder kann sich selbst ausrechnen, wie oft Kletterer hier ernsthaft Durchstiegsversuche setzen können. Auch sonst findet man in Finale eher längere Routen. Wer im Bereich unter 15 Meter bleiben möchte, muss schon ein bisschen suchen. Außerdem gibt es am Fels noch diese „finalen“ Versuche, kurz bevor man abends den Fels verlässt oder gar am letzten Klettertag. Dann liegen die Nerven blank, weil man die Route unbedingt noch schaffen möchte und es ungewiss ist, wann sich das nächste Mal die Gelegenheit zum Versuch bietet.

 

Da wir mit dem Wetter nur mäßig Glück hatten, gab es für uns sogar mehrere solcher Tage. Wir wussten gegen Ende der Woche nie genau, welcher denn nun unser letzter Klettertag (mit trockenen Griffen) werden würde! Denn die Felsen in Finale sind zwar oft überhängend, so dass man nicht sofort nass wird, allerdings drückt die Nässe irgendwann auch hier von hinten durch den Fels. Ob am Fels oder beim Wettkampf, vor dem Einstieg kann ein Kletterer also durchaus nervös werden.

 

Einmal eingestiegen, muss es der Kletterer dann aber schaffen sich ganz auf die Route zu konzentrieren. Während im Wettkampf vor allem jubelnde Zuschauer, schreiende Trainer oder blitzende Fotografen Ablenkungen bieten, sehen die Ablenkungen beim Felsklettern ganz anders aus. Dennoch, können weite Hakenabstände, vom Regen leicht feuchte Griffe oder 30-Meter-Touren mit der Schlüsselstelle 5 Meter unter dem Top ebenso eine hohe mentale Beanspruchung für Kletterer sein. Letzteres findet man ebenfalls an Felsen in Finale. So zum Beispiel am „Terminal“. Dieser eindrucksvolle Fels lockt mit 25-35-Meter-Touren, die teilweise homogene Ausdauerprobleme sind, sich manchmal aber auch als 5-Meter-Top-out Einzelstellen entpuppen. Ähnlich sieht es am etwas kürzeren Felsen „Colosseo“ aus. Hier bestehen die Routen meist aus zwei Einzelstellen, einer unteren und einer oberen. Egal wie: Auf eine solche Einzelstelle zu zu klettern, kann ganz schön an den Nerven sägen.

 

Da kein Kletterer jeden Stil gleich gut klettert, kommt sowohl im Wettkampf als auch am Fels der „Liegefaktor“ ins Spiel. Zwischen Platte und Überhang, gibt es eben doch einen bedeutenden Unterschied weshalb die wenigsten Kletterer in allen Neigungen an ihrem absoluten Limit unterwegs sind. Auch dann noch in schwere Felsrouten einzusteigen, wenn sie nicht dem persönlich favorisierten Charakter entsprechen, fällt manchem ähnlich schwer, wie sich selbst in derselben Situation im Wettkampf zu sagen: „Jetzt erst recht!“. Bei unserer Ausfahrt wurden wir immer wieder vor solche Herausforderungen gestellt. Vom Totaldach (Antro di Castelbianco), vom starken Überhang (Euskal), senkrechter Kletterei (Terminal), kniffligen Platten (Monte Sordo Finale Ligure), sowie von Einzelstellen bis Ausdauerkletterei: In Finale bekommen Kletterer alles geboten. Es versteht sich von selbst, dass wir uns an allen Varianten versuchten.

 

Zu guter Letzt noch die Bedingungen. Ein altes Thema und immer ein Thema – vor allem unter Felskletterern. Doch auch beim Wettkampf gibt es einige Faktoren, die den Kletterer stark beeinflussen können. Schließlich zählt nur die Tagesform. Hat der Kletterer in der Nacht zuvor schlecht geschlafen, war er die Woche vorher krank oder wird er morgens in der kalten Halle einfach nicht warm, dann kann er nicht seine volle Leistung abrufen. Und am Fels? Da sind zwar die Probleme andere, die Auswirkungen sind aber ähnlich. Sturzangst, nasse Griffe nach Regen, Plättegefühl vom letzten Klettertag oder schmerzende Fingerhaut von den Klettertagen davor können die Motivation ganz schön runterziehen. Es muss dann gelingen, sich selbst zu motivieren, damit man trotzdem die volle Leistung abrufen kann. Gerade die Regentage am Ende der Woche stellten uns vor besagte Herausforderung. Es war kälter geworden, wir wurden nass sobald wir nicht mehr unter dem schützenden Überhang standen und den einen oder anderen Griff mussten wir wegen Nässe auslassen. Dass wir dennoch klettern gehen, stand natürlich nicht in Frage. In Finale muss es eben doch sehr lange regnen, bis man nach unseren Maßstäben nichts mehr klettern kann. Außerdem: Spaß macht es sowieso immer!

 

Fazit: Womöglich sind es genau die beschriebenen Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Wettkampf und Fels, die einen Kletterer zum Wettkampf- oder Felskletterer werden lassen. Wobei es ja durchaus auch einige Leute geben soll, die mit beiden Situationen gut klar kommen. Sich als Leistungskletterer ab und zu in beiden Spielarten zu versuchen, kann auf jeden Fall nicht schaden! Denn egal, ob im Finale oder in Finale – eine große Rolle spielt zweifelsohne der Kopf eines jeden Kletterers. Schließlich werden genau von diesem Kopf die sinnvollen oder eben wenig sinnvollen Entscheidungen getroffen.

 

Abgesehen davon ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Wettkampf und Fels, dass gemeinsame Zeitverbringen mit der Gruppe. Das sollte man nie vergessen, wenn es im Urlaub oder bei einem Wettkampf mal nicht so gut lief. Denkt man später zurück, bleiben in den wenigsten Fällen Durchstiege oder Platzierungen in Erinnerung. Meistens sind es doch die Erlebnisse, Witze oder Pannen, die man gemeinsam erlebt hat, die im Gedächtnis hängen bleiben. Und so wird es wohl auch bei dieser Ausfahrt nach Finale sein. Wir hatten wieder einmal viel Spaß in der Gruppe und „so ganz nebenbei“ oder vielleicht gerade deshalb, konnten wir auch noch einige schwere Routen an den imposanten Felsen des Val Pennavaire in Finale klettern.

 

 

Text: Michael Müller

Bilder: Michael Müller

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